Was ist ein Kind? Gibt es etwas Spezifisches, das nur Kindern eignet? Was macht ein Kind eigentlich zu einem Kind, und wie unterscheidet es sich von einem Erwachsenen? Die Vorstellungen, was ein Kind sei, sind vielfältig und heterogen – und beinhalten Zuschreibungen über ein noch unfertiges Handlungsvermögen des Kindes, den imaginierten Zustand paradiesischer Unschuld bis hin zu komplexen Überlegungen, was Erwachsenen das Recht gibt, Entscheidungen für Kinder zu fällen. Die Umgangsweisen mit Kindern, die Institutionen, die eine Gesellschaft für Kinder schafft, und auch die familiären Praktiken sind von diesen Bildern über das Kind zutiefst geprägt. Wo den Spuren dieser Bilder nachgegangen wird, kann die Inblicknahme des Kindes präzise Konturen bekommen. Widersprüche tauchen auf: Das Kind fasziniert, aber niemand möchte wie ein Kind behandelt werden. Damit wird deutlich, dass es in den meisten Fällen die Entwürfe Erwachsener sind, die das Bild des Kindes festlegen und Kindheit als Objekt ihrer alltäglichen, pädagogischen, bildungspolitischen und wissenschaftlichen Diskurse verhandeln. Das Kind wird demnach mehr als Adressat unterschiedlicher pädagogischer Konzepte verstanden denn als ein selbstwirksames Subjekt der Geschichte, dem eine eigene Dignität zukommt und welches der erwachsenen Lebenserfahrung zum Denken gibt und ihre Stile und Praktiken in Frage stellt.
In den letzten Jahrzehnten taucht das Phänomen der Kindheit verstärkt nicht nur in den interdisziplinären Diskursen der kindheitstheoretischen Forschung auf. Bei aller Heterogenität kindlicher Realität scheint überwiegend eine Klarheit darin zu bestehen, dass Kindsein mit einem besonderen Status verbunden ist, der sich von jenen der Erwachsenen unterscheidet. Dieser Status steht eng in Verbindung mit Fragen der Fürsorge und der Erziehung, des Schutzes und der Disziplinierung, der Zuerkennung von Selbstständigkeit und paternalistischer Bevormundung. Dies zeigt, dass gerade dem Aspekt von Herrschaft und machtvollen Subjektivierungspraktiken in diesen Analysen eine hohe Aufmerksamkeit geschenkt werden muss: Historisch ausgerichtete Kindheitsforschungen machen deutlich, dass die Geschichte der Kindheit auch als Geschichte generationaler Herrschaft gelesen werden kann, die nicht selten eine Vereinnahmung, Kon­trolle und Formung der nachkommenden Generation an den Vorstellungen und Utopien der Erwachsenen darstellt. Kindheit wird so als ein politisches und moralisches Projekt lesbar, das von (auch religiös legitimierten) Vorstellungen eines starken Zugriffsrechts auf die sogenannte unmündige Generation gestützt und begleitet wird. Der Begriff des Kindes ist dabei eng mit einseitigen Sozialisationsvorstellungen verknüpft: Es sind immer die Kinder, die zu lernen haben.
Neutestamentliche Texte scheinen jedoch eine andere Perspektive auf die Kindheit zu eröffnen, in der ihre physiologische sowie symbolische Sprachlosigkeit (etymologisch verweist das Kind bzw. der infans auf die Unfähigkeit zu sprechen) in eine Fähigkeit, das Reich Gottes zu verkörpern, verwandelt wird. Das Evangelium ist in der Tat sehr hart gegenüber der Tendenz der Erwachsenen, die kindlichen Ursprünge des Lebens zu verdrängen: „Da rief Jesus ein Kind herbei, stellte es in ihre Mitte und sagte: ‚Wahrhaftig, ich sage euch, wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder, werdet ihr nicht in Gottes gerechte Welt hineingelangen.‘“ (Mt 18, 2–3)
Gerade für eine kindheitstheoretisch orientierte theologische Perspektive besteht eine hohe Notwendigkeit, über Formen wechselseitiger Sozialisationsprozesse in ihrer Bedeutung für Kirche(n), Religionsgemeinschaften und Gesellschaft nachzudenken und Möglichkeiten für solche resonanten und reziproken Anerkennungsverhältnisse theologisch zu erkunden: Wie kann die Bedeutung, die Jesus den Kindern für das anbrechende Königreich Gottes zuspricht, tatsächlich realisiert werden – und wie kann, jenseits aller Verklärung, die Bedeutung der Kinder für dieses Königreich präziser verstanden werden? Bei der Erkundung dieser Fragen ist dabei besonders zu beachten, dass gerade in den letzten Jahren vor allem im Kontext der Verbrechen des Missbrauchs die Prekarität und Verletzlichkeit von Kindern dramatisch in den Vordergrund des gesellschaftlichen und kirch­lichen Bewusstseins gerückt ist. Damit stellt sich die Frage, wie in religiösen Kontexten intergenerationale Begegnungen jenseits von Paternalismus, Machtmissbrauch und lediglich einseitiger religiöser Erziehung umgestaltet werden können.
Basierend auf diesen Überlegungen wird die Aufgabe deutlich, über die Frage nach der sozialen Position des Kindes in der Gesellschaft und den Religionen in vielfältigen Formen nachzudenken. Folgende Fragestellungen gilt es dabei besonders in den Blick zu nehmen:

  • Welche Bilder des Kindes sind an der Zeit, entworfen zu werden, und auf welche Legitimität und Begründungsstrukturen können sie aufbauen?
  • Wie können soziologische, (entwicklungs-)psychologische, geschichtliche, theologische und erziehungs- und bildungswissenschaftliche Perspektiven auf Kindheit aussehen, welche die spannungsvollen Verhältnisse von Autonomie und Erziehung, von Freiheit und Abhängigkeit, von Neuem und Bestehendem nicht un­dialektisch auflösen?
  • Welche ideengeschichtlich wahrnehmbaren Transformationen in der Kindheitsforschung verdienen aktuell eine höhere Aufmerksamkeit?
    Welche biblischen und theologischen Ressourcen können identifiziert werden, um gegenwärtig kindheitstheoretisch drängende Fragen kritisch zu bearbeiten?
  • Gibt es tatsächlich einen besonderen Wert der Kindheit? Wie kann dieser aus theologischer Sicht präziser bestimmt und herausgearbeitet werden, und welche Relevanz kommt diesen Besonderheiten in unterschiedlichen gesellschaftlichen Kontexten zu?
  • Welche eigenständigen Visionen gelingenden Lebens entwickeln Kinder in unterschiedlichen sozialen und kulturellen Kontexten, welche Fragen, Ideen, Ängste und Hoffnungen von Kindern können empirisch wahrgenommen werden und wie können diese in intergenerationalen Diskursen eingebracht werden?
  • Wie können „Theologien mit / angesichts von / von Kindern“ auch in ihrer Eigenständigkeit theologisch gewürdigt werden und wie können in Kirche(n), Religionsgemeinschaften und auch in der Theologie Räume für das offene theologische Gespräch mit Kindern geschaffen werden, welches einseitige Sozialisationsvorstellungen überwindet?
  • Welche Normalitätsvorstellungen von einer ‚entwickelten Religiosität‘ lassen sich in religionspädagogischen, entwicklungspsychologischen bzw. auch theologischen Diskursen identifizieren und welche Begründungsstrukturen liegen diesen zu Grunde?
  • Inwiefern gelingt es, Kinder in der kirchlichen Arbeit wirklich als Subjekte wahrzunehmen und nicht als Vehikel, um den eigenen Nachwuchs zu sichern (deutlich in der über Jahrzehnte immer wieder zitierten Formel „Kinder sind die Zukunft der Kirche“), und was bedeutet ein solcher Perspektivenwechsel theologisch, pädagogisch und in Bezug auf kirchliches bzw. religionspädagogisches Handeln?

Wenn Sie einen aktuellen, noch nicht publizierten, innovativen wissenschaft­lichen Beitrag in deutscher oder englischer Sprache, der auch gern interdisziplinär angelegt sowie methodisch unkonventionell sein kann, zu diesem Schwerpunktthema in der Zeitschrift LIMINA – Grazer theologische Perspektiven publizieren möchten, dann senden Sie bitte das Konzept Ihres Beitrags (max. 4.000 Zeichen) an: limina(at)uni-graz.at.

Der vollständige Beitrag sollte nicht mehr als 40.000 Zeichen umfassen. Informationen zur Zeitschrift, zum Peer-Review-Verfahren und zu den Publikationsrichtlinien finden Sie auf: http://unipub.uni-graz.at/limina.


Einsendeschluss für Beitragskonzepte: 15. 07. 2024
Entscheidung über die Annahme der Beiträgskonzepte: 19. 07. 2024
Einsendeschluss für die ausgearbeiteten Beiträge: 01. 11. 2024
Erscheinungstermin: Mai 2025


Herausgeber:innen dieser Ausgabe:
Isabella Guanzini (Linz), David Novakovits (Wien) and Wolfgang Weirer (Graz)

Schriftleitung:
Peter Ebenbauer (Graz)