In unsicheren und instabilen Zeiten mag das Bedürfnis nach einem Neuanfang wachsen. Doch wie verhält es sich mit der Möglichkeit, etwas Neues zu beginnen, einen Anfang zu setzen, der Bisheriges hinter sich lässt? Es sei das Signum der Freiheit, etwas Neues (mit sich und der Welt) anfangen zu können, sagt die Philosophie.
Denkt nicht mehr an das, was früher war; auf das, was vergangen ist, achtet nicht mehr! Siehe, nun mache ich etwas Neues. Schon sprießt es, merkt ihr es nicht?“ (Jes 43,18-19a) tönt es aus der biblischen Prophetie, die den Gott der Neuanfänge beschwört und damit nicht nur in der religiösen Imagination, sondern auch gesellschaftlich und politisch auf die Möglichkeit setzt, dass etwas Neues beginnen kann.
Die Ausgabe 9:2 (Herbst 2026) der Zeitschrift LIMINA widmet sich dem Schwerpunktthema „Neuanfänge. Zwischen Weltenende und Zukunftsvisionen“ und stellt sich der Aufgabe, die Potentiale und Chancen von Neuanfängen aus philosophischen, theologischen und kulturwissenschaftlichen Perspektiven auszuloten.

Von philosophischer Seite ist die Frage nach Neuanfängen basal an die Freiheitsthematik geknüpft. Mögliche Gestaltungsspielräume, die in ­einer Philosophie der Freiheit beschrieben werden, erfahren völlig unterschiedliche Bewertungen. Während die einen einen Determinismus vertreten, gehen die anderen davon aus, dass es für den Menschen bezeichnend sei, etwas Neues in der Welt beginnen lassen und einen kausal nicht ableitbaren Anfang setzen zu können.
Verknüpft mit der ersten Position ist die Leugnung der Willensfreiheit, die zweite Auffassung hingegen kommt ohne die Annahme, dass es ­einen freien Willen gebe, nicht aus. Behauptet man etwa, dass allein das Gehirn die jeweiligen Handlungen steuere, also das Subjekt selbst keinen Einfluss darauf ausübe, wie Zukunft gestaltet wird, nähert man sich einem Fatalismus an. Erst die Annahme eines Subjekts, das trotz aller Einschränkungen und Bedingungen menschlichen Handelns über einen gewissen Spielraum freier Entscheidungen verfügt, erlaubt es, über gewollte und steuerbare Neuanfänge sinnvoll zu diskutieren.

Transhumanistische Überzeugungen, die davon ausgehen, dass der Mensch in seiner Begrenztheit technisch überwunden werden könne, sind heute meist mit der Gewissheit verbunden, dass sich eine Zukunft auftun werde, in der die Welt lebenswerter und die Menschen moralisch besser würden, bevor Maschinen sie ablösen. Selbst ökologische Bedenken, was die Möglichkeiten, zukünftig noch ein gutes Leben führen zu können, betrifft, möchte man ausräumen, indem man verspricht, dass Technik und digitale Entwicklung die bestehenden oder kommenden Probleme lösen werden. Derzeitige Krisen, so die Überzeugung, könnten technisch überwunden werden.
Entlang der Forderung von Walter Benjamin, ein gehäuftes Auftreten von Ausnahmefällen nicht mehr als Ausnahme, sondern als Normalfall zu akzeptieren, versucht eine neue Generation kritischer Theoretiker:innen die Omnipräsenz von Krisen als Indikator für die Überholtheit eines modernistischen Weltbildes zu verstehen. Demgemäß muss die Vorstellung einer rational vollkommen durchdringbaren, handhabbaren und gestaltbaren Welt überwunden werden. Nicht nur sind ihre grundlegenden Konzepte wie die Natur-Kultur-Dichotomie spätestens seit der menschgewirkten Einflussnahme auf die Physis des Planeten im Kontext des Anthropozäns nicht haltbar, auch scheinen ihre Vorstellungen menschlicher Handlungs(-all-)macht überholt. Auf dieser Kritik aufbauende apokalyptische Vorstellungen sehen das Ende modernistischer Weltkonzepte und den Anbruch einer neuen Epoche gekommen; einer Epoche, in welcher der Mensch seine ontologische Eingebundenheit in ein planetares Netzwerk aus vielerlei menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren erkannt hat, seinen Erkenntnishorizont dementsprechend anpasst und somit auch neue Gestaltungsräume schafft.
Theologische Anknüpfungspunkte für das Schwerpunktthema „Neuanfänge“ bieten sich vor allem in der biblischen Prophetie, die die Frage von Umkehr und Neubeginn sowohl mit scharfen Unheilsandrohungen als auch mit dem Versprechen einer besseren Zukunft und mit Heilsverheißungen verfolgt. Dabei spielen ethische und soziale Fragen, aber auch Überlegungen über den richtigen Zeitpunkt (kairós) und die Dynamik der Geschichte bis hin zur Eschatologie eine entscheidende Rolle. Hinter allen menschlichen Anstrengungen um die Beendigung von Unrecht, Gewalt und Zerstörung scheint in der Prophetie Gott selbst als Schöpfer neuer Lebens- und Gestaltungsräume auf. Als Kontrapunkt zur Prophetie lässt im Spektrum der biblischen Zeugnisse freilich auch ein pessimistischer Akzent aufhorchen: „Was geschehen ist, wird wieder geschehen, was man getan hat, wird man wieder tun: Es gibt nichts Neues unter der Sonne. Zwar gibt es bisweilen ein Ding, von dem es heißt: Sieh dir das an, das ist etwas Neues – aber auch das gab es schon in den Zeiten, die vor uns gewesen sind.“ (Koh 1,9b-10)
Aus der Perspektive des Neues Testaments sind darüber hinaus apokalyptische Konzepte, eschatologische Visionen, die Reich-Gottes-Verkündigung (als Heterotopie) oder das Motiv der Geburt mit Aspekten von Neuanfängen verbunden.

Von diesen innerbiblischen Spannungspolen ausgehend, bieten sich interdisziplinäre Verknüpfungen mit gegenwärtigen freiheits- und zeitphilosophischen Diskursen wie auch mit kultur- und politikwissenschaftlichen Analysen im Kontext aktueller Fragestellungen an. Denn kulturwissenschaftlich berührt das Schwerpunktthema „Neuanfänge“ die Rolle und Funktion von Epochenbrüchen, Schwellenzeiten und Utopien im Kontext individueller wie auch kollektiver Lebensdynamiken. Politische und soziale Konzepte des Neubeginns reichen von Konfliktlösungsstrategien über basisdemokratische Initiativen bis hin zu revolutionären Umsturzversuchen. Angesichts globaler Krisenszenarien stellen sich verschärft Fragen der Unterbrechung und Beendigung traditioneller Handlungs-, Wirtschafts- und Produktionsweisen sowie der Erfindung und Implementierung neuer Formen des Wirtschaftens, der sozialen Interaktion und des Umgangs mit Ressourcen.
Kriege wie beispielsweise in Europa, dem Nahen Osten oder in Afrika lassen fragen, ob es zwischen den verfeindeten Parteien je wieder Neu­anfänge für Frieden und Versöhnung geben kann. Vorstellungen von ­einem beständigen Frieden scheinen in weite Ferne gerückt zu sein bzw. sich als unrealistische Utopien zu erweisen. Umso dringlicher sind Konzepte, wie man dystopischen Zukunftsszenarien entkommen könne.
In diesem breiten thematischen Spektrum zielt dieser Call vor allem auf folgende konkrete Fragestellungen ab, die auch inter- und transdisziplinär bearbeitet werden können:

  • Wodurch zeichnen sich Neuanfänge aus, und welche philosophischen und anthropologischen Aspekte sind gegenwärtig in dieser Hinsicht virulent?
  • Wie ist die Zunahme von sowohl dystopischen als auch eutopischen Zukunftsszenarien zu verstehen?
  • Welche individuellen und kollektiven Gestaltungsspielräume bzw. Erneuerungsperspektiven eröffnen sich angesichts der sich rasant beschleunigenden Interaktionsformen zwischen Mensch und Technik?
  • Wie sind die Visionen einer transhumanistischen Zukunft philosophisch und anthropologisch einzuordnen?
  • Welche Lernpotentiale eröffnen sich heute aus den unterschiedlichen Aspekten biblischer Prophetie, Eschatologie und Apokalyptik?
  • Welche biblischen Zukunftserwartungen (Zeitenwende, Zeitenende, radikale Neuschöpfung) können angesichts aktueller Krisenszenarien tragfähig sein?
  • Welche Neuansätze in der theologischen Eschatologie widerspiegeln die aktuelle Verunsicherung?
    Welche profanen Eschatologien haben heute Konjunktur?
  • Wie zeigen sich Ängste vor einer anderen oder Hoffnungen auf eine andere Zukunft in heutigen therapeutischen Settings?
  • Was tragen Zukunftsvisionen, Utopien und eschatologische Endzeitvorstellungen in die gegenwärtigen Debatten um nachhaltige Lebensbedingungen ein?
  • Welche philosophischen und theologischen Konzepte von Umkehr und Neubeginn könnten gegenwärtig für politische Transformationsprozesse und Konfliktlösungsstrategien fruchtbar gemacht werden?
  • Welche politischen Auffassungen implizieren optimistische und welche pessimistische Utopien?
  • Welche Ansätze in der aktuellen Friedensforschung sind besonders erfolgversprechend?
  • Wie setzen sich gegenwärtig die Künste mit der Spannung zwischen Resignation und Neuaufbrüchen auseinander?

Wenn Sie einen noch nicht veröffentlichten aktuellen und innovativen wissenschaftlichen Beitrag zum Schwerpunktthema „Neuanfänge. Zwischen Weltenende und Zukunftsvisionen“ in der Zeitschrift LIMINA publizieren möchten, dann senden Sie bitte das Konzept Ihres Beitrags (max. 4.000 Zeichen) an:

limina(at)uni-graz.at

Der vollständige Beitrag (in deutscher oder englischer Sprache) sollte nicht mehr als 40.000 Zeichen umfassen. Informationen zur Zeitschrift, zum Peer-Review-Verfahren und zu den Publikationsrichtlinien finden Sie auf: https://unipub.uni-graz.at/limina

  • Einsendeschluss für Beitragskonzepte: 15. 12. 2025
  • Entscheidung über die Annahme der Beitragskonzepte: 22. 12. 2025
  • Einsendeschluss für die ausgearbeiteten Beiträge: 31. 03. 2026
  • Erscheinungstermin: Herbst 2026


Herausgeber dieser Ausgabe:
Peter Ebenbauer und Reinhold Esterbauer

Schriftleitung:
Peter Ebenbauer